Ein Kapitel aus "Der Amuramidolch"

Hilfe, Hilfe, nein, nicht, lass mich los!“, schrie Annika, entkam durch eine geschmeidige Drehung den Ästen eines Baumes und rannte los, so schnell sie konnte. Es war kaum zu fassen, hier gab es Bäume die sich bewegten, sie angriffen und verfolgten! Wo war sie da nur hingeraten? Auf der Erde konnte sie nicht sein, denn solche Bäume existierten da nicht, also gab es dafür nur eine Erklärung, aber die konnte und wollte sie nicht akzeptieren.

Sie blickte sich um und versuchte, sich wieder auf ihr akutes Problem zu konzentrieren, schließlich wurde sie ja noch immer verfolgt. Die Bäume kamen zwar nicht schnell genug voran, um sie als gute Sprinterin einzuholen, waren aber trotz ihrer Größe sehr flott unterwegs. In einiger Entfernung vor ihr erkannte sie einen hohen Felsen und da sie sonst nichts vorfand, um Schutz zu suchen, war das die einzige Möglichkeit, sich irgendwie in Sicherheit zu bringen und lief darauf zu. Und wo, verflixt noch mal, war eigentlich Alina? Hatten die Bäume sie bereits in ihrer Gewalt?

„Annika, lauf, lauf so schnell du kannst! Wir müssen zu dem Felsen, dort können wir uns verstecken!“, schallte es ihr plötzlich entgegen und ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie registrierte, dass da Alina rief und auf sie zugerannt kam.

„Alina, da bist du ja, endlich habe ich dich gefunden“, antwortete sie völlig außer Atem.

„Du kannst mich später küssen, wir müssen jetzt schleunigst zu dem Felsen und uns vor diesen „Wahnsinnsbäumen“ verstecken!“ Auch Alina war total verblüfft über das, was sie da sah.

„Aber ich kann nicht mehr“, lechzte sie und sank auf die Knie.

„Es ist nicht mehr weit, wir haben nur noch ein kleines Stück vor uns. Komm jetzt, auf mit dir, sonst holen uns die Bäume doch noch ein!“

Sorgenvoll richtete sie den Blick auf die bereits bedrohlich nahe herangerückten Bäume. Mittlerweile waren es mehr als am Anfang, die die Verfolgung aufgenommen hatten und auch aus anderen Richtungen strömten grüne Wellen aus Bäumen auf sie zu, die ihnen womöglich den Weg zu dem Felsen abschneiden würden. Sie wusste zwar nicht, ob das Versteck, das Alina erwähnte, ausreichend Schutz vor diesen Ungetümen bot, aber besser als wie hier auf dem freien Feld würde es allemal sein.

Sie sahen bedrohlich aus, wie sie mit ihren langen Ästen um sich schwangen, die stark an große Hände mit langen, knöchrigen Fingern erinnerten und damit über den Boden streiften und tiefe Furchen hinterließen. Das Wurzelwerk bildeten die Beine und ihre Fortbewegung ähnelte der einer watschelnden Ente, was sie aber nicht unbedingt weniger angsteinflößend wirken ließ. Einen Kopf konnte man nicht erkennen, zumindest nicht aus dieser Entfernung, aber sie hörte deutlich Stimmen, tiefe Stimmen, die mit einem Rauschen vermischt waren, so als ob ein Windstoß in einen belaubten Baum fuhr.

Alina packte sie unsanft am Arm, zog sie hoch und zerrte sie hinter sich her in Richtung Unterschlupf. Am Ende ihrer Kräfte, stolperte sie mehr als dass sie lief, wodurch die beiden nicht besonders schnell vorankamen. „Wir schaffen es nicht, die Bäume sind schneller!“, bemerkt sie entsetzt und mobilisierte nochmals letzte Kraftreserven. Den Eingang einer Höhle konnte sie bereits erkennen und sie waren nur noch etwa 150 Meter davon entfernt, aber die ersten Bäume befanden sich schon auf der Höhe ihres rettenden Unterschlupfs und jede Menge folgten ihnen.

„Was sollen wir machen, wie sollen wir an denen vorbeikommen?“, kreischte Alina.

„Wir müssen einfach weiterlaufen und versuchen, sie vom Eingang wegzulocken und dann irgendwie die Höhle erreichen. Sie sind zwar groß, aber auch relativ träge. Wir müssen es wie im Fußball machen, links antäuschen und dann rechts vorbei und immer in Bewegung bleiben. Wenn wir nicht länger rumtrödeln, dann haben wir nur die rechts von uns, die anderen sind noch zu weit weg.“

Nur die rechts von uns? Ja wenn es sonst keine sind?“, spottete Alina, zog die Augenbrauen hoch und gab ihr einen Klaps auf die Schulter. „Na, dann los, schießen wir ein Tor“, sagte sie und beide rannten in Richtung Höhleneingang. Sie liefen, wie von Annika vorgeschlagen, erst einmal seitlich von ihrem angestrebten Ziel weg und wie vorausgesagt, folgten ihnen auch die Bäume, so dass der Zugang zur Höhle wieder frei wurde.

„Jetzt kommt der schwierigste Teil, wir müssen sie austanzen! Immer schön antäuschen und auf die schwingenden Äste achten!“, rief sie Alina zu. Den Gegner durch überraschende Richtungswechsel in die Irre führen, hatten die zwei schon mehrmals beim Fußballspiel erfolgreich umgesetzt, warum sollte es hier mit diesen Bäumen nicht auch gelingen?

Die beiden liefen los und hielten seitlichen Abstand zueinander, damit sie sich nicht gegenseitig behinderten. Annika sah sich einem wütenden Exemplar gegenüber, setzte kurz nach links an, worauf sofort die Äste nach ihr schlugen, denen sie durch ein leichtes Bücken auswich und dann rechts eine Lücke fand, um vorbeizulaufen. Aber schon stand ein weiterer Baum im Weg. Angespornt durch ihren ersten Erfolg, war sie jetzt durchaus zuversichtlich, dass es wieder so funktionieren würde, was auch anfangs noch zutraf, doch dann stolperte sie über eine hochgestellte Wurzel und stürzte. Blitzschnell rollte sie sich zur Seite um den niedersausenden Ästen auszuweichen, die knapp neben ihrem Kopf hart auf den Boden aufschlugen. Gleichzeitig erblickte sie auf der anderen Seite, wie ein anderer Baum sie mit seiner Wurzel zertreten wollte und machte einen Satz nach vorn. Wieder auf den Beinen, rannte sie weiter und da streiften sie am Rücken die Äste eines weiteren Baumes, was erneut zu einem Sturz führte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schnellte sie sofort wieder hoch, gerade noch rechtzeitig, um einem erneuten Angriff des Baumes mit seinen Ästen auszuweichen.

Sie war kurz vor dem Ziel, zwischen ihr und der rettenden Höhle befand sich nur noch ein Baum. Doch dieser hatte bereits alle seine Äste am Boden und ein Ausweichen seitlich war nicht möglich, denn sonst würde sie den nachgerückten Bäumen in die „Hände“ laufen. Sie müsste nur noch diesen Baum überwinden, dann wäre sie gerettet, machte sie sich selber Mut und rannte direkt darauf los. Aber es war ein sinnloses Unterfangen, wie sie schnell feststellte. Sie wollte noch einen Haken schlagen, aber der Baum hatte sie schon im Ansatz mit seinen langen Ästen erfasst und wollte sie mit einer schwingenden Bewegung an seinen Stamm drücken. „Hilfe, … Alina! Hilf mir!“, rief sie mit erstickter Stimme und versuchte verzweifelt, sich aus dem Würgegriff des Baumes zu befreien, als von der Seite ein Stein geflogen kam und den Ast traf, der sie festhielt. Der Baum brüllte auf, augenblicklich lockerte sich die Umklammerung des Astes und mit ein paar Drehungen konnte sie sich aus dem Geäst herauswinden. Mit letzter Kraft spurtete sie los und hechtete mit einem großen Satz in die rettende Höhle, wo sie völlig erschöpft und außer Atem unsanft auf den Boden aufschlug. Kurz darauf stolperte auch Alina herein, die sich die linke Schulter hielt, begleitet von einem Brüllen eines Baumes, der wütend mit seinen Ästen auf den Eingang der Höhle schlug.

„Gerade noch mal vorbeigeschrammt, würde ich sagen“, empfing sie Alina und wischte sich die Haare aus dem Gesicht.

Mit angstgeweiteten Augen saßen die zwei in der Höhle und starrten durch die Öffnung auf das Treiben der Bäume draußen und Annika hoffte, dass sie keine Möglichkeit finden würden, zu ihnen zu gelangen. Sie wollte genauer erfahren, was da vor sich ging, pirschte vorsichtig an den Eingang heran und spähte hinaus auf die Lichtung.

„Annika, was hast du vor, sei vorsichtig!“, rief Alina, sich noch immer die Schulter haltend.

„Keine Angst, ich will nur wissen, was die Bäume jetzt machen.“

Sie waren noch immer zahlreich vorhanden, und es hatte den Anschein, als ob sie sich beraten würden, was sie nun unternehmen könnten, um sie beide doch noch zu erwischen, denn sie standen in einer Gruppe beisammen und ein leises Gemurmel war zu vernehmen. Aber so lange wollte sie nicht warten. „Was wollt ihr von uns? Was haben wir euch getan?“, rief sie aus der Höhle hinaus.

Das Gemurmel verstummte augenblicklich und die Bäume drehten sich in die Richtung der Höhle. Danach folgte eine gespenstische Stille, nur ihr Atem und der von Alina waren zu hören und nach einigen Augenblicken, die ihr wie eine kleine Ewigkeit vorkamen, bewegte sich einer der Bäume auf den Eingang zu ihrem Unterschlupf zu. Etwa fünf Meter davor blieb er stehen und nun konnte sie auch das Gesicht erkennen, das heißt, es war eigentlich kein richtiges Gesicht. Es war nur ein Augenpaar auszumachen, getarnt als zwei nebeneinander stehender Astlöcher im Stamm, mit einem warmherzigen und gutmütigen Ausdruck darin, der eigentlich nicht zu dem Auftritt gerade eben passte. Und diese Augen waren auch nicht irgendwo hoch oben im Geäst, sondern ungefähr auf der Höhe des Eineinhalbfachen eines erwachsenen Menschen. Gespannt warteten sie und Alina, die nun ebenfalls neugierig war und sich hinter dem Eingang befand, was wohl jetzt folgen würde.

„Du hast Feuer gemacht“, sprach das Baumwesen auffällig langsam mit tiefer Stimme, begleitet von einem Blätterrauschen, die aus einem plötzlich unterhalb des Augenpaares sich abzeichnenden kleinen, querverlaufenden Spalt zu kommen schien. „Feuer zerstört uns und unseren Lebensraum. Feuer bedeutet für uns, wir werden angegriffen.“

„Ich wollte euch nicht angreifen“, verteidigte sie sich, „ich wollte mir nur für die Nacht ein Feuer machen, um wilde Tiere fernzuhalten und mich zu wärmen. Außerdem habe ich nicht einmal gewusst, dass es Wesen wie euch gibt, weil ich und meine Freundin aus einer anderen Welt sind, bei uns existieren keine Bäume, die laufen und sprechen. Wir sind nur aus Zufall durch einen Spiegel in eure Welt gekommen. Es hört sich zwar verrückt an, ich weiß, aber ich sage die Wahrheit.“

Wieder war diese Stille wie gerade eben zu vernehmen, der Baum stand buchstäblich wie angewurzelt vor dem Eingang und gab keinen Laut von sich. Endlos erscheinende Minuten verstrichen, aber der Baum stand noch immer reglos da, als ob plötzlich alles Leben aus ihm gewichen wäre.

„Warum sagt er nichts mehr?“, fragte Alina ungeduldig, „er soll gefälligst mit uns sprechen“, und blickte abwechselnd zu ihr und dem Baum.

„Keine Ahnung, warum er jetzt nicht mehr redet“, entgegnete sie und sie befürchtete schon, ihn jetzt noch mehr gegen sich und Alina aufgebracht zu haben. Sie musste den Dialog aufrecht erhalten und begann erneut hinauszurufen: „Bitte tut uns nichts, wir wollen nur so schnell wie möglich wieder in unsere Welt zurück! Könnt ihr uns helfen? Wisst ihr vielleicht, wie wir wieder zurückkehren können oder kennt ihr jemanden, der etwas darüber weiß?“

Lange Minuten vergingen. Aber es regte sich nichts, keine Reaktion des Baumes, er stand nur da.

„Es ist zwecklos, er antwortet nicht“, sagte Alina resigniert, drehte sich vom Eingang ab, ging ein Stück in den hinteren Teil der Höhle, setzte sich und ließ den Blick durch ihren hart erkämpften Unterschlupf schweifen.

„Vielleicht sagt er ja doch noch was“, gab Annika die Hoffnung nicht aufgebend von sich, drehte sich zu Alina und bemerkte, dass sie sich noch immer die Schulter hielt.

„Wie lange meinst du, müssen wir hier drin bleiben?“, fragte diese etwas kleinlaut und betrachtete mit eher ängstlichem Ausdruck in den Augen die Wände ringsum.

„Keine Ahnung, das hängt von den Bäumen draußen ab. Was ist eigentlich mit deiner Schulter? Hast du dich verletzt?“

„Ach nichts, das gibt nur einen blauen Fleck“, beschwichtigte Alina, zog hektisch ihre Hand von der Schulter und sah ganz unbeteiligt auf den Boden.

Dass Alina gern die Harte spielte und Verletzungen meistens unterschätzte, war für sie nichts Neues und sie bestand darauf, ihre Schulter untersuchen zu dürfen. „Von wegen blauer Fleck“, empörte sie sich, als sie Alinas blutunterlaufenes Schultergelenk sah und strafte sie mit einem strengen Blick, „das sieht eher nach einem ausgewachsenen Bluterguss aus! Wie hast du dir denn den zugezogen?“

„Ich bin irgendwie bei unserem Galopp durch die Bäume gestolpert und auf etwas Hartem gelandet. Das ist halb so schlimm, in ein paar Tagen sieht man davon nichts mehr“, verharmloste Alina ihre Blessur und zog ihren Körper etwas genervt von ihr weg, um der Sprechstunde ein Ende zu bereiten.

Sie hatte die Geste verstanden, Alina hasste es, wenn sie jemand bemutterte und fürsorglich behandelte, dass wusste sie von ihrem gemeinsamen Training. „Kommt dir diese Höhle nicht auch seltsam vor?“, wechselte sie rasch das Thema. „Ich sage dir, das ist keine natürliche Höhle, dafür ist sie an den Wänden viel zu glatt und insgesamt zu gleichmäßig gestaltet. Komm, sehen wir uns mal genauer um.“

Die beiden wollten sich gerade auf Erkundungstour machen, als sie zu ihrer Überraschung wieder die tiefe Stimme des Baumes vernahmen. Schnell rannten sie zum Eingang und sahen hinaus.

„Die „Andere Welt“, von der du sprichst, davon habe ich schon einmal gehört. Wir werden uns beraten und dann entscheiden, was geschieht“, ließ der Baum verlauten, drehte sich um und ging mit seinen watschelnden Bewegungen zu der weiter entfernt stehenden Gruppe zurück, von der er gekommen war.

„Hast du das gehört?“, rief Alina euphorisch, „vielleicht können sie uns helfen, und wissen, wie wir wieder zurück nach Hause kommen?“

„Ja, vielleicht. Warten wir erst mal ab, was bei dieser Beratung rauskommt. Zuerst müssen wir sehen, wie wir die beiden Rucksäcke in unser Versteck bekommen, ohne dass die Bäume es merken.“

„Welche Rucksäcke meinst du?“

„Bevor ich durch den Spiegel gegangen bin, um dich zurückzuholen, habe ich zwei Proviantrucksäcke gepackt, für alle Fälle, aber bei dem Angriff der Bäume ließ ich sie am Waldrand stehen.“

„Du denkst wie immer an alles“, stellte Alina bewundernd fest. „Also los, worauf wartest du. Komm mit, holen wir sie, bevor die Bäume mit ihrer Besprechung fertig sind“, sagte sie begeistert und wollte gleich loslegen.

„Halt, nicht so schnell!“, rief Annika, versperrte den Ausgang und warf einen flüchtigen Blick hinaus. Mittlerweile war es schon fast vollkommen dunkel und von den Bäumen fehlte erstaunlicherweise jede Spur, also bestand eine relativ hohe Chance, dass ihr Vorhaben gelingen würde. „Wir müssen trotzdem vorsichtig sein und dürfen keinen Lärm verursachen, sonst werden wir entdeckt. Wie geht es eigentlich deiner Schulter?“

„Ich komm schon klar, mach dir keine unnötigen Gedanken. Jetzt lass uns endlich die Rucksäcke holen“, drängte Alina etwas gereizt und zog sie mit hinaus ins Freie.

In geduckter Haltung gingen sie den Spuren nach, die sie und die Bäume hinterlassen hatten. Man konnte sie im hohen Gras noch gut erkennen und waren ein willkommener Wegweiser durch die Dunkelheit. Sie kamen zügig und ohne große Geräuschentwicklung voran und näherten sich in kurzer Zeit dem Waldrand. Etwa 20 Meter vor dem ersten Baum blieb Annika stehen und flüsterte zu Alina: „Wir müssen uns ganz langsam anschleichen, die Rucksäcke sind genau unter dem großen Baum vor uns und ich weiß nicht, ob alle Bäume lebendig sind oder ob es auch ganz normale gibt.“

„Wir haben keine Möglichkeit, es herauszufinden, wir müssen es einfach versuchen“, erwiderte Alina und ging ohne das geringste Geräusch zu machen auf den Baum zu.

Sie folgte ihr in kurzem Abstand und war ebenfalls bemüht, geräuschlos zu sein. Alina konnte schon fast nach den Rucksäcken greifen, während sie noch einige Meter entfernt behutsam einen Fuß vor den anderen setzte, als plötzlich ein Ast mit einem lauten Knacks unter ihrem Gewicht zerbrach. Ihr war, als ob ihr das Blut in den Adern zu Eis wurde, stand mit angehaltenem Atem da und auch Alina blieb sofort stocksteif stehen. Ausgerechnet so kurz vor dem Ziel musste sie noch auf so einen dämlichen Ast treten! Sie war bereits gefasst darauf, dass der Baum zum Leben erwachen und sie beide mit seinen langen Ästen umklammern würde. Doch nichts geschah. Sie warteten noch ein paar Herzschläge und dann griff Alina nach den Rucksäcken, drehte sich um und ging, nicht besonders darauf achtend Geräusche zu vermeiden, ihr entgegen, während sie noch immer wie zu Stein erstarrt auf dem zerbrochenen Ast stand.

„Der tut uns nichts, die Bäume hier sind alle normal, sonst wären wir schon längst von Ästen eingewickelt“, sagte Alina in fast normaler Lautstärke.

Allmählich erwachte auch sie aus ihrer Angststarre und beide machten sich auf den Weg zurück zu ihrem Versteck, jetzt wieder bemüht, möglichst leise zu sein.

Als sie schon die Umrisse des Felsens ausmachen konnten, riss plötzlich die Wolkendecke auf und eine fast gleißende Helligkeit strahlte sie an.

„Verdammter Mist, das fehlte uns gerade noch!“, fluchte Alina, „fast hätten wir es geschafft. Was scheint denn hier so hell?“

Annika konnte sich diese Helligkeit auch nicht erklären, denn auch bei Vollmond zu Hause war es bei weitem dunkler als jetzt und das, obwohl nur einzelne Wolkenlücken vorhanden waren. Als sich die zwei wieder dem Felsen zuwandten, stockte ihnen erneut der Atem.

„Da haben wir den Salat, wegen dieser Helligkeit haben sie uns natürlich gesehen!“, schimpfte Alina und richtete den Blick auf die Bäume, die sich im Halbkreis vor dem Eingang zur Höhle aufgestellt hatten. „Hast du auch Waffen mitgebracht?“, fragte sie und sah kampfeslustig zu ihr.

„Natürlich nicht!“, entrüstete sie sich. „Ich habe nur ein kleines Messer dabei. Wir müssen uns ein neues Versteck suchen“, sagte sie und überblickte rasch die Lichtung.

„Wo sollen wir denn hin? Etwa in den Wald?“, entgegnete Alina und ruderte mit den Armen.

Alina hatte Recht, außer dem Felsen in der Mitte und dem Wald gab es hier nichts zum Verstecken und beide waren im Moment nicht gerade die erste Wahl: Den Felsen versperrten die Bäume und im Wald warteten bestimmt gleiche Artgenossen wie die vor ihnen oder noch Schlimmeres auf sie, nach den Geräuschen zu urteilen, die sie dort gehört hatte.

„Wartet, lauft nicht weg!“, hallte es von den lebenden Bäumen herüber. „Wir haben beschlossen, euch nichts zu tun.“

Erstaunt und noch etwas skeptisch über die unerwartete Friedfertigkeit der Bäume blieben die beiden stehen.

„Wir dachten, dass uns der Dunkelfürst wieder Schwierigkeiten macht, wie er es immer wieder mit Hilfe des Lebenden Feuers versucht. Mittlerweile sind wir vorsichtig, denn schon einige Male wurden große Flächen durch den Angriff des Feuers zerstört. Eigentlich hat er es auf den Almandil von uns Treben abgesehen und da wir uns von den normalen Bäumen kaum unterscheiden, schickt er immer wieder seine Soldaten in Begleitung einer Frau aus dem Moorgebirge, denn nur sie wissen von allen Völkern Norenikas, wie man das Lebende Feuer entfacht. Aber bis jetzt haben wir sie immer noch in die Flucht geschlagen.“

„Was meinst du mit Lebendem Feuer? Und wer ist dieser Dunkelfürst? Und was ist ein Almandil?“, warf Annika ein und ging zu ihrer eigenen Überraschung langsam auf den Baum zu. Sie wollte mehr wissen, denn wenn sie und Alina wieder zurück wollten, könnte dieses Wissen durchaus hilfreich sein. „Wo sind wir hier überhaupt, wie heißt du eigentlich und wodurch weißt du von der Anderen Welt?“, fragte sie erneut, bevor der Baum auf die ersten Fragen antworten konnte und stand nun unmittelbar vor ihm.

„Langsam, langsam, nicht so viele Fragen auf einmal!“, entrüste sich dieser, sichtlich erstaunt über die Initiative von ihr und seine Stimme hatte jetzt einen aggressiven Unterton „Du bist hier in Norenika, wir sind das Volk der Treben und du kannst mich vorerst Rotbaum nennen, wegen meiner rötlichen Rinde. Meinen richtigen Namen verrate ich dir vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt. Wie gesagt, wir sind in dieser unsicheren Zeit vorsichtig gegenüber Fremden und verraten auch nicht zuviel von uns, denn wir hatten schon einmal einen Besucher, der aus der Anderen Welt nach Norenika kam. Er nannte sich Daniel, war ungefähr in deinem Alter, sehr klug und hatte uns im Kampf gegen den Dunkelfürsten immer wieder geholfen. Wir hatten ihm vertraut, doch mit der Zeit wurde er immer verschlossener und eines Morgens war er nicht mehr aufzufinden. Ich befürchte, dass er sich mit ihm verbündet hat, denn zuletzt sprach er immer davon, dass er seine Situation verbessern möchte. Wir sind alle in Alarmbereitschaft, denn Daniel weiß viel von unserem Volk und wenn dieses Wissen dem Dunkelfürsten zu Ohren kommt, dann ist das eine gefährliche Sache für uns. Mehr Fragen werde ich dir auch nicht beantworten. Wir erlauben euch, die Nacht in der Höhle zu verbringen und morgen begleite ich euch bis an den Rand unseres Reiches und dann verschwindet ihr wieder. Als Sicherheit werden zwei Treben vor der Höhle stehen, nicht, dass ihr doch noch auf dumme Gedanken kommt.“

Nach diesen eher ruppigen Worten verschwanden alle Treben bis auf zwei Exemplare in Richtung Wald.

„Gehen wir in die Höhle“, sagte nach einiger Zeit Annika, immer noch von Rotbaums Schilderungen etwas verwirrt und zog Alina, in möglichst großem Abstand an den beiden Treben vorbei, hinter sich her.

Mittlerweile hatten sich die Wolken komplett verzogen und jetzt wurde ihr auch klar, warum es so ungewöhnlich hell war. „Sieh dir das mal an“, sagte sie, kurz bevor sie die Höhle betraten, blieb stehen und deutete auf die kosmische Konstellation: Es waren zwei Monde vorhanden, einer ungefähr so groß wie der zu Hause, der andere etwa eineinhalb mal so groß und beide als Vollmond!

„Wo sind wir denn hier gelandet?“, fragte Alina verdutzt.

Zu ihrem Entsetzen bestätigte sich Annikas Anfangsverdacht. „Wir müssen in einem ganz anderen Teil des Universums sein, denn in unserem Sonnensystem und auch in nächster Nähe gibt es nur die Erde als bewohnbaren Planeten und die hat nur einen Mond!“, sagte sie mit bereits schriller werdender Stimme und hatte Mühe, ihre zunehmende Angst zu unterdrücken. Ihre Hoffnung, jemals wieder nach Hause zu kommen, sank auf den Nullpunkt.

Alina legte den Arm um ihre Schulter. „Wir sind hierhergekommen, also gibt es auch einen Weg zurück. Wir schaffen das schon“, sagte sie behutsam, um sie zu beruhigen, denn sie hatte wieder einmal bemerkt, was in ihr vorging, was aber auch keine große Kunst war. Sie war noch nie gut darin, ihre Gefühle zu verbergen.

Bevor beide in die Höhle gingen, sah sie sich noch einmal um. Durch die Helligkeit konnte man ungehindert bis zum Waldrand blicken und tatsächlich waren die anderen Treben allesamt verschwunden.

Drinnen angelangt, kramte sie, mittlerweile wieder einigermaßen beruhigt, in ihrem Rucksack und zog die Taschenlampe heraus. „Wir wollten doch noch die Höhle erkunden“, sagte sie zu Alina gewandt, „nicht, dass wir hier drinnen auch noch eine Überraschung erleben.“

Die Höhle war nicht besonders groß, etwa sechs Meter breit, 15 Meter tief und drei Meter hoch. Als die zwei in den hinteren Bereich gelangten, verspürte Annika das gleiche komische Gefühl, das sie auch zu Hause im neuen Kellerraum wahrnahm und in der Erwartung, jeden Moment einen Spiegel zu sehen, leuchtete sie die gesamte Höhle aus. Die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Die Höhle erweiterte sich zwar auf etwa 12 Meter in der Breite, bildete einen Kreis und wurde doppelt so hoch mit einem kuppelförmigen Gewölbe, aber statt eines erhofften Spiegels in der Wand stand in der Mitte des Kreises nur eine Art Altar, vollständig aus dem Felsen gearbeitet und dahinter an der Rückwand befanden sich zahlreiche kleine Nischen. Sie versuchte, sich ihre leichte Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und stellte nüchtern fest: „Genau wie ich vermutet hatte, das ist keine natürliche Höhle, sie wurde von jemandem in den Felsen geschlagen.“

„Das ist bestimmt ein Kultplatz, ich hatte schon am Anfang, als ich die Lichtung mit dem Felsen in der Mitte sah, diesen Eindruck“, entgegnete Alina und blickte ehrfurchtsvoll die vor ihr liegende Halle ab.

„Bleibt nur zu hoffen, dass sich keiner daran stört, dass wir hier nächtigen“, sagte Annika mit einem besorgten Unterton in ihrer Stimme und warf nochmal einen Blick auf die Nischen. Sie wüsste zu gerne, zu welchem Zweck die alle angebracht worden waren und wollte schon näher herantreten, als Alina sie am Arm zog.

„Komm, wir schlafen jetzt hier und morgen versuchen wir das Gebäude zu erreichen, das im Spiegel zu sehen war.“

Beide suchten sich einen möglichst bequemen Platz, sofern man einen nackten Felsboden als bequem bezeichnen konnte, aßen noch eine Kleinigkeit, holten die Schlafsäcke heraus und Annika hing ihren Gedanken nach. Das, was sie heute erlebt und auch gehört hatte, reichte normalerweise für ein paar Jahre und konnte dadurch natürlich nicht einschlafen.

„Wie bist du eigentlich zwischen die Bäume durchgekommen?“, fragte sie schließlich, als sie immer noch wach lag und bemerkte, dass auch Alina noch nicht schlief. „Hattest du Schwierigkeiten?“

„Zum Glück nicht, ich habe sie alle ausgetanzt, wie die Abwehrspieler im Fußball. Das war eine gute Idee von dir.“

„Ich hatte etwas mehr Probleme, wie du ja mitbekommen hast. Am Anfang ging es noch gut, aber dann erwischte mich ein Baum mit seinen Ästen und ich stürzte zu Boden. Du kamst gerade rechtzeitig, wer weiß, was die mit mir angestellt hätten.“

„Ist ja nochmal gutgegangen“, beschwichtigte Alina, „wir müssen hier zusammenhalten, wie du es im Buch gelesen hast.“

„Ja, das müssen wir in dieser uns unbekannten Welt.“ Ihr war plötzlich kalt und sie kuschelte sich tiefer in ihren Schlafsack. „Nicht gerade besonders freundlich, die Treben, was?“, sagte sie anschließend.

„Kein Wunder nach diesen negativen Erfahrungen mit diesem Daniel. Den müssen wir finden, vielleicht wüsste er, wie wir wieder nach Hause könnten.“

„Ja, daran hatte ich auch schon gedacht, aber dazu müssten wir wissen, wo dieser Dunkelfürst herrscht und was uns dort eigentlich erwartet. Wenn er sich wirklich mit ihm verbündet hat, dann ist es vermutlich gefährlich, ihn aufzusuchen. Und wer weiß, vielleicht möchte er auch nicht mehr zurück und strebt für ihn interessantere Ziele hier in Norenika an.“ Nachdenklich starrte sie zur Decke und fuhr nach einigen Augenblicken fort: „Ich brauche einfach mehr Informationen über diese Welt, welche Wesen es gibt, wer friedlich und wer kriegerisch ist und welche Möglichkeiten wir zur Verteidigung haben. Morgen spreche ich nochmal mit Rotbaum. Er muss mir alles über diese Welt sagen, nur dann haben wir eine Chance.“

Am nächsten Morgen erwachten beide fast gleichzeitig und Annika war froh, dass sie eine ruhige Nacht ohne weitere Überraschungen verbringen konnten. Sie sah sofort auf ihre Armbanduhr. Diese zeigte genau 11 Uhr an. Nach der Helligkeit draußen könnte das stimmen, aber vielleicht waren hier am Tag auch zwei Himmelskörper vorhanden wie nachts. Sie ging zum Eingang und wollte das sofort überprüfen, genau wie die Frage, ob und wie viele unbekannte Fabelwesen bereits auf der Lichtung auf sie warteten. Zu Ihrer Erleichterung war kein Drache oder ein ähnliches Ungeheuer zu sehen, es war alles ruhig, nur die zwei Treben standen wie normale Bäume in der Nähe des Eingangs. Die beiden Monde waren verschwunden und es gab nur eine Sonne, jedoch war diese um einiges größer als die, die sie kannte. Es war also Tag, aber nach ihrem Stand zu schließen, sie befand sich nur ein kleines Stück über dem Horizont, konnte es eigentlich nur früher Morgen sein und nicht kurz vor Mittag. Entweder hat hier ein Tag mehr als 24 Stunden oder die Uhrzeit war um einige Stunden verschoben. Das bedeutete, sie müsste nur die Zeit von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf ihrer Uhr ablesen, dann könnte sie diese Frage beantworten. Aber dafür war es heute schon zu spät, schlussfolgerte sie und ging wieder zurück zu Alina in die Höhle. Sie wollte ihr gerade die neu gewonnenen Erkenntnisse berichten, als sie mitten im Satz abbrach und Alina bestürzt anstarrte. „Was ist denn mit deiner Schulter, die ist ja völlig angeschwollen?“

„Ich weiß es auch nicht“, antwortete Alina mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Ich kann kaum meinen Arm bewegen. Gestern Abend hatte ich fast keine Schmerzen, und heute …“

„Hoffentlich ist das Schlüsselbein nicht gebrochen. Das muss von jemandem untersucht werden“, ordnete sie an.

„Und von wem?“, antwortete Alina gereizt. „Kennst du hier vielleicht einen Arzt, der um die Ecke seine Praxis hat?“

Das stimmte allerdings. Hier einen Arzt mit modernen Diagnose- und Heilmethoden ausfindig zu machen, würde sich als schwierig erweisen. Aber trotzdem, so konnten sie unmöglich weitergehen. Da fielen ihr die beiden Treben vorm Eingang wieder ein, die müssten doch jemanden kennen, der in der Behandlung von Verletzungen fit ist. „Du bleibst vorerst in dieser Höhle, die ist einigermaßen sicher, und ich frage die Treben draußen, die kennen bestimmt jemanden, der sich deine Schulter ansehen kann. Inzwischen kannst du dich ja umziehen, denn in deinem Aufzug bist du eher für einen Stadtbummel geeignet als für einen Survival-Trip“, sagte sie, und machte mit dem Arm eine Bewegung von oben nach unten. Alina musterte sich selbst und schürzte zustimmend ihre Lippen. „Ich habe hier geeignete Kleidung und Schuhe für dich eingepackt, es sind zwar Sachen von mir, aber sie müssten dir eigentlich passen“. Sie reichte ihr den zweiten Rucksack und begab sich, vorher sicherheitshalber noch ihr Taschenmesser einsteckend, ohne Alinas Antwort abzuwarten, hinaus zu den beiden Wachen.

 

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